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Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ab sofort
Bisher gab es in Deutschland keine verpflichtende Arbeitszeiterfassung. Nur die Mehrarbeit an Sonn- und Feiertagen musste dokumentiert werden. Seit dem 2. Dezember 2022 ist das anders. Neben Beginn und Ende der Arbeitszeiten, müssen auch Pausen erfasst werden. Der Beschluss betrifft sämtliche Betriebe in Deutschland, unabhängig von deren Größe.
Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung besteht ab sofort. Das gilt unabhängig von der Größe, Art oder Branchenzugehörigkeit des Unternehmens. Mit der ausführlichen Begründung seines Grundsatzbeschlusses vom September 2022 hat das BAG Anfang Dezember 2022 im Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) Fakten geschaffen. Danach ist der Arbeitgeber „verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann“. Neben Beginn und Ende der Arbeitszeiten, müssen nun auch Pausen registriert werden. Der Beschluss betrifft sämtliche Betriebe in Deutschland, unabhängig von deren Größe.
Ohne Übergangslösung sind die Arbeitgeber nach § 3 ArbSchG dazu verpflichtet, ein entsprechendes System zur Zeiterfassung einzuführen. Die genaue gesetzliche Regelung soll im Frühjahr 2023 erfolgen.
Die Vorgabe des Europäischen Gerichtshofs
„Wenn man das deutsche Arbeitsschutzgesetz mit der Maßgabe des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) auslegt, besteht bereits eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung“, so die Vorsitzende Richterin am Bundesarbeitsgericht Inken Gallner. Maßgeblich sei jedoch nicht das Arbeitszeitgesetz, sondern das Arbeitsschutzgesetz. „Zeiterfassung ist auch Schutz vor Fremdausbeutung und Selbstausbeutung“, so Gallner weiter. Die Richter des Arbeitsgerichts sehen nach der geltenden Rechtslage den Arbeitgeber in der Pflicht, sämtliche Arbeitszeiten zu erfassen. Darüber, wie genau das in der Praxis aussieht, haben sie offengelassen. Es sei nicht die Aufgabe des Gerichts, hier konkret zu werden. Auch das 2019 vom EUGH gesprochene Urteil war in diesem Punkt unkonkret.
Der Beschluss des BAG vom 13. September 2022
Eigentlich ging es bei dem Fall, den das BAG verhandelte, lediglich um die Frage, ob Betriebsräte auf die Einführung eines elektronischen Arbeitszeiterfassungssystems bestehen können und somit ein Initiativrecht haben. Das BAG verneinte diese Frage. Ein solches Mitbestimmungsrecht bestehe nur, wenn und soweit die betriebliche Angelegenheit nicht schon gesetzlich geregelt und damit einer Handlungspflicht unterliege. Der Betriebsrat habe hingegen ein Mitspracherecht, wenn es darum gehe, in welcher Form das Zeiterfassungssystem auszugestalten sei.
Dokumentation via Stechuhr, App oder auf Papier
Bis dato fehlen genaue gesetzliche Vorgaben, wie die Erfassung der Arbeitszeiten in der Praxis genau aussehen soll. Viele, vor allem größere Betriebe, haben bereits digitale Zeiterfassungssysteme. Für Unternehmen, die nicht darüber verfügen, bieten sich zur Dokumentation Zeiterfassungs-Apps an. Eine andere Möglichkeit sind Tabellenverarbeitungssysteme oder einfach Notizen auf einem Blatt Papier. Aktuell ist die Form nicht entscheidend. Es kommt allerdings darauf an, dass die Dokumentation verlässlich und objektiv ist und dem Arbeitgeber zur Verfügung gestellt wird. (Auch hier gelten die Richtlinien der Datenschutz-Grundverordnung.)
Bevor es noch keine konkreten gesetzlichen Vorgaben in dieser Hinsicht gibt, sollten Arbeitgeber in große Investitionen absehen. Wichtig ist nur, dass die Arbeitszeiten genau dokumentiert werden. Denn die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung besteht ab sofort!
Zeiterfassung im Homeoffice und Vertrauensarbeitszeit
Nach Angaben des Statistische Bundesamtes, arbeitete beinahe ein Viertel der Angestellten im Jahr 2021 von zu Hause. Viele Unternehmen bieten weiterhin mobiles Arbeiten und Homeoffice an. Doch auch hier gilt: Die Arbeits- und Pausenzeiten müssen dokumentiert werden. Wie das gemacht wird, entscheiden die Arbeitgeber, in der Regel nach Absprache.
Auf Basis der Vertrauensarbeitszeit zeigte sich in den „Coronajahren“, dass mobiles Arbeiten gut funktionieren kann. Beschäftigte arbeiten im Homeoffice und gehen ihrer Tätigkeit eigenverantwortlich und flexibel nach, ohne kontrolliert zu werden, wann sie ihre Aufgaben erledigen.
Mit der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung stellt sich die Frage, ob diese Art der „Vertrauensarbeitszeit“ noch möglich ist. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales beantwortet das mit einem deutlichen „ja“.
„Mit Vertrauensarbeitszeit wird im Allgemeinen ein flexibles Arbeitszeitmodell bezeichnet, bei dem die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer eigenverantwortlich über die Lage (also Beginn und Ende) der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit entscheiden kann. Der Arbeitgeber „vertraut“ dabei darauf, dass die Arbeitnehmerin bzw. der Arbeitnehmer ihrer bzw. seiner vertraglichen Arbeitsverpflichtung nachkommt. Eine Dokumentation der Arbeitszeit steht einer solchen Vereinbarung nicht im Wege. Die Vorgaben des öffentlich-rechtlichen Arbeitszeitschutzes (insbesondere zur täglichen Höchstarbeitszeit und zu Ruhezeiten) dienen dagegen der Sicherheit und dem Gesundheitsschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und sind auch bei Vertrauensarbeitszeit heute schon einzuhalten. Vertrauensarbeitszeit unter Beachtung dieser Vorgaben ist daher auch weiterhin möglich.“
Vertrauensarbeitszeit gilt vor allem für sogenannte Wissensarbeiter (Knowledge Workers), beispielsweise Journalisten, Programmierer, Architekten, Designer, Ärzte, Rechtsanwälte usw. Seit Jahren wird dies vonseiten der Gewerkschaften kritisiert, weil dieses Modell häufig zu unbezahlten Überstunden führt.
Viele Überstunden werden verschenkt
1,7 Milliarden Überstunden wurden laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 2021 in Deutschland angehäuft. Davon werden etwas über die Hälfte nicht bezahlt. Unentgeltliche Extraarbeit wird über kurz oder lang der Vergangenheit angehören, zumal die Pflicht zu lückenloser Arbeitszeiterfassung besteht.
Grundsätzlich müssen Überstunden bezahlt oder abgebaut werden, wenn der Arbeitsvertrag keine anderweitige Regelung enthält. Die Arbeitszeiterfassung nach dem ArbSchG dient in erster Linie dem Gesundheitsschutz der Beschäftigten. Im produzierenden Gewerbe ist der Bedarf nach einer gesetzlichen Regelung weniger hoch. Dort sind elektronische Zeiterfassungssysteme meist die Regel.
Etwas anderes gilt bei den sogenannten Wissensarbeitern, also solche, bei denen die „Stechuhr-Zeiterfassung“ oft nicht möglich ist, weil die Tätigkeiten dafür zu komplex sind. (Dazu später mehr.)
Nach Erhebungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit leistete 2021 jeder Arbeitnehmer durchschnittlich knapp 22 unbezahlte Überstunden. In der Summe wurden demnach 893 Millionen oder gut 52 Prozent aller Überstunden nicht vergütet. Demnach kommen sie im Schnitt auf rund drei Überstunden pro Woche, die bei fehlender Dokumentation oftmals nicht ausgeglichen werden.
Zeiterfassung auch für leitende Angestellte?
Eine genaue Definition, wer unter den Begriff „Leitender Angestellter“ fällt, gibt es nach deutschem Recht bislang nicht. Formal sind dieser Arbeitnehmer. Aufgrund ihrer Funktion, sind sie eher der Arbeitgeberseite zuzuordnen, da diese normalerweise weder hinsichtlich der maximaler Arbeitszeit noch gesetzlich vorgeschriebener Pausenzeiten Vorgaben befolgen müssen. Deshalb ist es fraglich, ob sie die Pflicht zur Erfassung ihrer Arbeitszeit betrifft, zumal das deutsche Arbeitszeitgesetz nicht für sie gilt.
Es kann sein, dass der Gesetzgeber hier in nächster Zeit noch entsprechenden Sonderregelungen nachlegt. Denn der europarechtliche Arbeitnehmerbegriff umfasst auch leitende Angestellte und geschäftsführende Personen.
Bußgeld bei Verstoß gegen die Zeiterfassungspflicht?
Wer die Regelungen zur Arbeitszeiterfassung nicht wie vorgesehen in seinem Betrieb, im Übrigen auch in Kleinstbetrieben, nicht umsetzt, weil er glaubt, dass es ohnehin keine Kontrolle gebe, der irrt. Werden die zuständigen Behörden wie das Landesamt für Arbeitsschutz oder das Gewerbeaufsichtsamt auf einen Verstoß hingewiesen, müssen sie der Sache nachgehen. Das ist wiederum ihre Pflicht!
Liegt ein Verstoß gegen die Pflicht zur Zeiterfassung vor, sollte sich der betroffene Arbeitnehmer zunächst nach einem Ansprechpartner in seinem Unternehmen umsehen. Das ist bei größeren Firmen der Betriebsrat. Wenn es keinen Betriebsrat und keine Vertrauensperson in einem Unternehmen gibt, sollte eine Behörde verständigt werden.
In einigen Städten gibt es sogar Hotlines, bei denen man den Verstoß melden kann, das sogenannte „Arbeitsschutztelefon“ in Hamburg zum Beispiel, bei dem sich Betroffene über „unzumutbare Arbeitsbedingungen beschweren“ und Rat einholen können.
Eventuell wird in absehbarer Zeit in diesem Punkt die Gesetzgebung geändert, sodass zum besseren Schutz der Beschäftigten, diese sich direkt an Dritte wenden können, ohne zuvor den Weg über firmeninterne Stellen gehen zu müssen. Denn das kann für den jeweiligen Arbeitnehmer durchaus nach hinten losgehen.
Arbeitgebern drohen momentan bei Verstößen gegen die Zeiterfassungspflicht noch keine Bußgelder, weil es sich dabei, mangels Gesetz, (noch nicht) um eine Ordnungswidrigkeit handelt. Der bloße Verstoß gegen die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung nach § 3 ArbSchG ist nicht unmittelbar mit einem Bußgeld belegt. Erhält ein Unternehmen von der zuständigen Behörde jedoch eine konkrete Auflage, die er ignoriert, ist allerdings ein Bußgeld fällig. Und das kann bis zu 30.000 Euro betragen.
Arbeitszeiterfassung in der Praxis
Falls noch nicht geschehen, sollten Sie als erstes Ihre Belegschaft darüber in Kenntnis setzen, dass es ab sofort eine gesetzliche Pflicht zur Arbeitszeiterfassung gibt. Falls Sie noch kein geeignetes System haben, mit dem Sie Arbeitsbeginn, Arbeitsende und Arbeitsdauer Ihrer Beschäftigten erfassen können, zum Beispiel, weil Sie die konkreten gesetzlichen Vorgaben abwarten wollen, gibt es zumindest für eine Übergangslösung einfache Möglichkeiten.
Beispiel: Mit der folgenden Vorlage erfassen Sie die Arbeitszeiten mit Excel. Ihre Mitarbeitenden tragen Beginn, Ende und Pausenzeiten sowie Bemerkungen ein. Für jeden Monat gibt es ein separates Tabellenblatt. Die Daten werden täglich dokumentiert und können als Wochenübersicht angezeigt werden.
Stellungnahme
Gesetzliche Vorgaben wie die Entscheidung des EuGH von Mai 2019 sind dazu da, eine gemeinsame europäische Linie im Arbeitsschutz zu verfolgen. Aus meiner Sicht ist es deshalb der richtige Weg, dass das BAG der Vorgabe des EuGH zur Frage der Arbeitszeiterfassung folgt und die Notwendigkeit dafür national festlegt.
Das BAG schuf im September 2022 mit seinem Grundsatzurteil Fakten. Dabei ging es in dem Beschluss eigentlich nur darum, ob der Betriebsrat darauf bestehen kann, dass in seinem Unternehmen ein elektronisches Arbeitszeiterfassungssystem eingeführt werden kann, womit er ein Initiativrecht hätte. Das aber hat das BAG verneint.
Da sich der Gesetzgeber um eine Entscheidung zur Arbeitszeiterfassung gedrückt hat, haben die Gerichte das Heft in die Hand genommen und dafür gesorgt, dass im Wege der Rechtsprechung rechtliche Vorgaben umgesetzt werden. Der Beschluss des BAG wirft ein Schlaglicht darauf, dass die gesetzlichen Regelungen im Arbeitsschutz in jedem Fall nachjustiert werden müssen.
Dass noch immer in Betrieben Überstunden dem Arbeitgeber einfach geschenkt werden, ist ein Unding und aus der Zeit gefallen. Schlupflöcher, etwa um Mindestlöhne zu unterlaufen, müssen geschlossen werden.
Dabei geht es nicht um eine Rückkehr zur Stechuhr. Vielmehr geht es um eine nachvollziehbare, ehrliche und moderne Erfassung individueller Arbeitszeiten zugunsten des Arbeitsschutzes. Und dafür geht an objektiven, verlässlichen und verfügbaren Systemen der Zeitmessung aus meiner Sicht kein Weg vorbei.
Übertriebener Aktionismus für betrieblichen Regelung ist im Moment trotz allem nicht zu empfehlen. Noch hat der Gesetzgeber die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung nicht konkret definiert. Bleibt zu hoffen, dass der Gesetzentwurf im ersten Quartal 2023 mehr Klarheit im Arbeitsschutzrecht bringen wird.
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Veröffentlicht am: 4. Oktober 2024
Kategorien:Arbeitsrecht
Schlagworte:Arbeitsschutzgesetz,Arbeitszeiterfassung